Ich glaube, dass den verschiedenen mystischen Traditionen ein bestimmter kontemplativer "Prozess" gemeinsam ist, und der läßt sich, wie schon an anderer Stelle geschildert, in zwei Teilen zusammenfassen, die aufeinanderfolgen oder miteinander einhergehen. Buddhistisches DHYANA etwa läßt sich wie folgt verstehen:
- Beruhigung des "Ego-Bewußtseins" (mangels eines verständlicheren Begriffes...) mitsamt seines sinnesgebundenen Bewußtseins; Schaffung eines nicht-dualistischen Geisteszustandes
- Einsicht in das, was allen geschaffenen/"geborenen" Phänomenen (=dualistischen Bildern) vorausgeht
Buddhistische Samatha-Vipasyana-Meditation - Hui-nengs kurze brilliante Anweisung - die spätere dem eng verwandte Koan-Praxis Da-huis - Meister Eckharts Abgeschiedenheit & Gottesgeburt in der Seele - kontemplatives Beten in der christlichen Tradition - meines Erachtens liegt ihnen allen in mehr oder weniger deutlicher Form der obenbeschriebene Prozess zugrunde. So gesehen ist Zen, was den kontemplativen Teil betrifft, durchaus nicht einzigartig - abgesehen von der Fülle an zahlreichen Varianten, die sich über die Jahrhunderte innerhalb des Ch'an/Zen herausbildeten.
Schriftenlesung kann diesen Prozess der Beruhigung & Einsicht ergänzen. Buddhistische Sutras etwa sind voll von Mitteln, die dem Übenden helfen können, bestimmte "Knoten", spirituelle Blockaden zu lösen und zu PRAJNA, zu spiritueller Weisheit zu gelangen.
Moralisches Verhalten - SILA - in Form von Verhaltensregeln, Paramitas oder dem christlichen "liebe deinen Nächsten wie dich selbst" bekommt erst dadurch Sinn, dass es der höheren Wahrheit dient und nicht Selbstzweck ist (etwa "besseres" Karma erzielen soll, oder einen der günstigen Plätze im "Jüngsten Gericht" zu ergattern...).
Meines Erachtens tauchen DHYANA - PRAJNA - SILA in allen großen spirituellen Traditionen auf; keines führt alleine zum Ziel, sondern alle drei müssen miteinander einhergehen - mit Berücksichtigung individueller Veranlagung. Zu viel Schriftenstudium führt zu Verwirrung, da erst die Meditation die Prinzipien kohärent macht; wenn man nur meditiert, fehlt einem womöglich die Orientierung, und man fällt irgendwelchen Geisteszuständen zum Opfer; und wer nicht lernt, zu geben und zu teilen, hat Gier, sei es spiritueller oder materieller Art, vermutlich noch nicht überwunden. So kann jeder Übende selbst sehen, wo er oder sie gerade feststeckt, und woran es womöglich gerade mangelt - mir persönlich hat es geholfen.
Gruß,
Ken
wenn das ein Streit war, dann streite ich echt gern mit dir...
Was du bezüglich eines "mahayanischen" Ansatzes schreibst, ist auch mein Eindruck. Masefields Beschreibung des Frühbuddhismus löst vermeintliche Widersprüche zur Mahayana-Lehre eher auf, als dass sie sie vergrößert. Masefield selbst verweist bei der Betrachtung des "parato ghoso" auf das Lotus Sutra. Das, was man in späteren Mahayana-Sutras beim flüchtigen Blick gern für bloße ausschmückende Dichtung hält, ist in Wirklichkeit eine metaphorische Ausschmückung von Aussagen, die bereits im Frühbuddhismus bekannt waren, möglicherweise aber später ignoriert wurden, sodass es zum Mahayana-Hinayana-Widerspruch kam. Vielleicht daher betrachteten sich Mahayana-Buddhisten als Wiederentdecker der eigentlichen buddhistischen Botschaft.
Gnade oder Karma [gibt es das? einen karmischen Zufall?] - tatsächlich scheint mir kein großer Unterschied vorzuliegen. Gnadenorientierte Religionen tun sich möglicherweise schwerer mit der Erklärung von Gut und Böse und deren Konsequenzen, doch grundsätzlich haben wir es immer mit der Auffassung zu tun, dass jedes Wesen prinzipiell das Potential hat, Befreiung/Erlösung zu erlangen. Nur läßt sich dieses Potential nicht verallgemeinern. Als er gefragt wurde, wieviele Wesen seine Lehre wirklich verstünden, strich der Buddha mit dem Finger über den Boden und verglich die Menge Staub, die an seinem Finger klebte, mit der ganzen Welt. Für die Erfüllung des Potentials müssen offenbar sowohl der individuelle Entschluss und der daraus folgende individuelle Weg als auch die passende spirituelle Konstitution (im Buddhismus letztendlich karmisch bedingt) vorhanden sein. Doch für den Suchenden gibt es keinen Grund zum Hochmut, keine Garantie - im Staub an Buddhas Finger waren ja noch nicht einmal alle dem Buddha Nachfolgenden eingeschlossen. Jedes Wesen geht da tatsächlich seinen eigenen Weg, bis es sich eines Tages am Fuße des Berges widerfindet, sich fragt, was wohl oben so los ist und sich an den Aufstieg macht (den achtfachen Ariya-Pfad). In Zeiten des Zweifels ist es immer noch am besten, der inneren Stimme zu folgen. "Ob ihr wirklich richtig liegt, seht ihr, wenn das Licht angeht"...
Gruß,
Ken