Ein Teisho von Michael Rei-Ko Sabass zum Holocaust-Gedenken in der Buddhistischen Gesellschaft in Hamburg am 01-02-04

Holocaust-Gedenken in der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg 01-02-04

Wie erinnern uns heute an die grauenhaften Verbrechen und die Opfer des Holocaust - von der Machtergreifung 1933, den Verschleppungen und Morden bis zur Befreiung der wenigen Überlebenden 1944-45.
Ich habe mich natürlich gefragt, was ich als Zenmeister dazu noch sagen könnte, was nicht schon hundert- oder tausendmal gesagt und geschrieben worden ist. Hat der Buddhismus eine besondere Erklärung für das Ungeheuerliche - oder hat er besondere Erkenntnisse, wie mit solcher Vergangenheit und Schuld umgegangen oder wie sie in Zukunft vermieden werden könnte? Und warum machen wir das - eine Erinnerungszeremonie - wir, die wir alle geboren wurden, als der Holocaust schon vorbei war?
Und warum erinnern wir uns gerade an den Holocaust und nicht an das Grauen, das sich noch vor wenigen Jahren in Afrika in Ruanda zwischen Hutu und Tutsi abgespielt hat, oder an die entsetzlichen Verbrechen beim Auseinanderbrechen von Jugoslawien, an Tschetschenien, an Afghanistan oder Irak (egal, wer da wen gequält und umgebracht hat) - und letztlich an die Millionen Kinder, die jedes Jahr in der sogenannten 3. Welt sterben, weil wir unseren Lebensstandard nicht senken wollen, an die vielen tausend Frauen, die aus Asien und dem Osten zu uns verschleppt werden, damit Männer sich gegen Geld befriedigen können? Es gibt noch viel mehr, an das wir uns und andere erinnern könnten.
Natürlich ist das Besondere am Holocaust, dass es unsere ureigenste Geschichte ist - es waren unsere Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Großeltern, die da verstrickt waren, und wir sind ihre Kinder. Und es ist hier vor unseren Türen geschehen, dass Freunde und Nachbarn mit Gewalt aus ihren Wohnungen gerissen wurden, von ihren Kindern und Männern und Frauen getrennt und ermordet wurden und unsägliche Qualen erlitten haben - etwas, was ich mir für mich, meine Frau, meine Kinder, meine Enkelin gar nicht vorstellen kann: Welch unfassbares Leid es für mich bedeuten würde, wenn ich nur von einem von ihnen auf eine solche Weise getrennt würde.
Das ist mir näher als Afghanistan oder Tibet.

Aber macht ein Bodhisattva solche Unterschiede zwischen hier oder in Tibet oder heute oder 1944, meinem Geburtsjahr? Wie mag das Mitgefühl eines Buddha sich anfühlen? Wie also - und das ist doch für uns immer wieder die Frage - gestaltet und äußert sich das 'vollständig erleuchtete Mitgefühl', wie wir es doch alle gerne hätten?
Mir geht es so, dass mich seit einigen Jahren das Leiden, von dem ich aus Zeitungen, Büchern, Nachrichten oder Filmen erfahre, immer mehr berührt - will sagen: Ich habe es mir die meiste Zeit meines nur 60-jährigen Lebens vom Leibe gehalten. Dem Holocaust bin ich völlig unvorbereitet auf mich zutiefst erschreckende Weise begegnet: Ich war in einem Internat in Bayern, und als ich 18 oder 19 war, gab es so etwas, das nannte man 'Konzentrationstage' - also drei oder vier Tage, in denen sich alle Schüler (etwas 150) des Internats mit einem gemeinsamen Thema in Vorträgen, Filmen, Aufführungen usw. beschäftigten. Das Thema waren 'die goldenen 30'er Jahre', also die Zeit zwischen erstem und zweitem Weltkrieg, die Zeit der großen Rezension, aber auch der Hoffnung und der überschwenglichen Freiheit des einzelnen. Und da hatten wir einen Lehrer, der vor kurzem aus Ostdeutschland gekommen war, der hatte wohl gemerkt, das unser Geschichtsunterricht jedenfalls in meiner ganzen Schulzeit immer bei Bismarck geendet hatte - irgendwie hatte die Zeit nie ausgereicht, auch noch zu dem Rest unserer Geschichte zu kommen.
Der zeigte uns Filme, die die Amerikaner aufgenommen hatten, als sie in Buchenwald angekommen waren. Habt Ihr das gesehen? Die Felder von Leichen, die wirklich nur noch Haut und Knochen sind? Nicht schön nebeneinender gelegt, sondern auf Haufen geworfen wie Müll, mit aufgerissenen Augen und Mündern. Und die Überlebenden - unglaublich, dass sie überhaupt noch stehen konnten.
Ich war steif und innerlich erstarrt, das war nicht wirklich aufzunehmen, das konnte ich emotional nicht annehmen. Aber wir alle, die das gesehen hatten, waren drei Tage lang irgendwie still, nicht mehr so ungehalten oberflächlich lustig wie sonst, sondern einfach jeder in sich gekehrt. Wir sind dem Unfaßbaren begegnet.
Ich jedenfalls damals zum ersten mal in meinem Leben - ich hatte eine beschissene Kindheit, mit viel Trennung und Leid usw., aber alles immer noch in einem Rahmen, von dem ich dachte: So ist die Welt, und irgendwie galt immer noch so etwas wie Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich konnte auch als Kind Ursache und Wirkung zusammen bringen. Aber ein Konzentrationslager? Das war außerhalb meines Fassungsvermögens und ist es heute noch. Ich habe dann Konzentrationslage besucht: Buchenwald, Auschwitz, Treblinka,. In Mauthausen traf ich einen alten Mann, einen Überlebenden, der dort Führungen anbot und berichtete, was dort geschehen war.
Ich habe alles das viele Jahre aus meinem Gedächtnis verbannt – nicht nur aus dem Gedächtnis, sondern aus meinen Gefühlen: Ich habe nicht zugelassen, dass ich das Grauen, die Angst, die Verzweiflung spüren könnte, die mit diesen Berichten, dem, was ich gesehen und gehört habe, verbunden sind. Aber seit einigen Jahren mache ich es nicht mehr weg – aber dennoch: Die Wirklichkeit von damals ist für mich nach wie vor gefühlsmäßig nicht zu erfassen.
Warum mache ich das aber dann? Warum und für wen machen wir hier auch noch eine Zeremonie? Ich will das aus der Sicht eines ziemlich nüchternen Zen-Buddhisten etwas beleuchten.
1. Der Buddhismus kennt so etwas wie Schuld nicht – auch nicht so etwas wie Erbsünde. Insofern trage ich tatsächlich keine Verantwortung für das Grauen, dass unserer Vorfahren noch vor 60 Jahren begangen haben. Ich habe aber tiefes Mitgefühl für diejenigen, die damals gelitten haben und auch diejenigen, die heute noch unter den Verlusten leiden, die ihnen angetan wurden, indem ihnen Eltern, Geschwister, Freunde und viele andere weggenommen wurden – auch Heimat, Besitz und vieles mehr.
2. Wenn ich meinem Mitgefühl Ausdruck gebe wie heute, dann glaube ich nicht daran, dass das irgendjemandem hilft, schon gar keinem Verstorbenen. Ich denke, dass zum Beispiel die wichtige tibetische Übung des Tonglen keinerlei Fernheilung bewirkt: Bei dieser Übung nehme ich geistig Kontakt zu einem Freund oder sogar Feind auf und stelle mir vor, dass ich etwas, unter dem der leidet (Angst, Haß, Trauer, Schmerz usw.), wie eine dunkle Wolke von ihm weg nehme und in mich mit dem Einatmen aufnehme, und mit dem Ausatmen schicke ich ihm in einer helle Wolke Gutes und Heilendes wie Gelassenheit, Geduld, Frieden, Liebe usw.
Aber ich tue es dennoch aus zwei Gründen: Für mich ist es eine Übung der inneren Reinigung, mit der ich meine Ängste und Abwehr vermindere, und es ist richtig, wie die Tibeter sagen: Diese Übung erzeugt Mitgefühl, weil ich zu anderen Menschen in der Meditation eine innige Verbindung eingehe. Und für diejenigen, die heute noch unter den damaligen Gräuel leiden, ist es ein Trost, von meinem Mitgefühl für sie zu erfahren.
3. Uns Buddhisten bringt das "Gesetz des bedingten Entstehens" ja in Verlegenheit, wenn uns die Frage gestellt wird, wie es denn sein kann, dass gänzlich unschuldige Menschen, gerade auch Kinder im Holocaust gequält und ermordet wurden – man mag da nicht so gern die naheliegende Antwort geben, dass auch diese Kinder aus schlechtem Karma früherer Leben entstanden sind, denn man muss schon ein etwas tieferes Verständnis von Karma und Wiedergeburt haben, um nicht doch in die Falle zu gehen: Also hat das Kind selbst Schuld.
Eine befriedigendere Deutung von Karma berücksichtigt die Erkenntnis des Buddha, dass es diese Persönlichkeit gar nicht gibt, die da in vorherigen Leben etwas angesammelt hat und nun die Folgen erleidet - sondern dass in der Vergangenheit - egal von wem - Böses in die Welt gesetzt worden ist, das sich später irgendwie, egal in welchen Menschen, manifestiert und Leiden erzeugt.

Ich glaube aber gar nicht, dass es so etwas wie ein "Gesetz des bedingten Entstehens" gibt. Auch wenn es in vielen Sutren Shakyamuni Buddha zugeschrieben wird, es auch schon in den Veden und Upanischaden erläutert wird: Ich halte es für Aberglaube, eine Erfindung der Menschen, weil sie es nicht hinnehmen wollen, in einer ganz und gar ungerechten Welt zu leben - besser: einer Welt, die so etwas wie Gut und Böse, gerecht, ungerecht gar nicht kennt. Denn es darf doch nicht sein, dass ein KZ-Arzt wie Mengele einfach so davon kommt; und es darf auch nicht sein, dass die Opfer der Nazi keinen Ausgleich für ihr Leiden bekommen. Dem Universum ist aber doch das Leiden von Menschen oder Tieren gänzlich gleich. Kontinente entstehen und versinken, Tiergattungen beherrschen die Welt Millionen von Jahren - und sterben aus. Ein Komet trifft die Erde und löscht nahezu alles Leben aus.
Und die Lehre von der Wiedergeburt ist ja nichts anderes als die Heilserwartung der Christen: Im Christentum wird eben nach dem Tod Gerechtigkeit ausgeübt, im Buddhismus in einem nächsten Leben. Wo ist der Unterschied?
Dennoch: Ich kann für mein - und nur für mein - Leben doch Ursache und Wirkung erkennen, wenn auch nur für einige kleine und große Entwicklungen, und ich weiß inzwischen, dass es mich selbst freier und glücklicher macht, wenn ich keinem Leiden ausweiche, wenn ich es sogar suche, so lange ich noch nicht frei davon bin. Und vielleicht werde ich noch so etwas Grauenhaftes erleben wie so viele im Holocaust - in jedem Fall werde ich noch schmerzliche Verluste erleiden, sei es, dass meine Lieben vor mir krank werden und sterben, sei es, dass ich langsam sterbe und von allem Abschied nehmen muss. Meine Erfahrungen in der Sterbebegleitung haben mir aber gezeigt, wie viel leichter ich heute mit Tod und Sterben - auch dem Gedanken an meinen eigenen - umgehen kann als noch vor 15 Jahren.
Also auch dazu ist diese Zeremonie: Uns selbst mit Leiden, Ungerechtigkeit und Tod vertraut werden zu lassen.
4. Ich glaube nicht daran, dass die Welt friedlicher wird, wenn wir in unserem Herzen Frieden schaffen, wir wenige hier - und seien wir auch 100 tausend. Jedenfalls bin ich als Physiker viel zu nüchtern, um mich einer solchen mystischen Illusion hinzugeben, wir wären doch alle nicht getrennt voneinander, wir seien irgendwie doch mit allen Menschen verbunden, mit allen fühlenden Wesen und allen Bäumen und Steinen. Und da würden wir eben durch unsere Zeremonie, wenn sie von Herzen gemacht wird, eben Gutes und Heilsames in diese Welt setzen, das dann auch irgendwie heilsam wirken wird, das Heil dieser Welt mehren wird.
Ich meine, der Buddha hat so etwas nie gesagt, denn er hat sich nicht um irgendwelche weltanschaulichen Modelle gekümmert. Er hat das Leiden und die Überwindung des Leidens des Einzelnen im Blick gehabt - und da ist es für uns Buddhisten offensichtlich, dass unser Leiden daraus entsteht, dass wir und als Individuen, als getrennte Persönlichkeiten begreifen, immer getrennt von dieser Welt in unserem Dualismus von Ich und Nicht-Ich gefangen. Für die Überwindung meines Leidens ist es von zentralen Bedeutung, diese Trennung zu überwinden, meine eigene Sichtweise und mein Fühlen aus der Egozentrik zu lösen und mich berühren zu lassen - mich von allem um mich herum berühren zu lassen, gleich ob es schmerzt oder wohl tut. Berührt-Sein: Das ist der Inhalt, der Kern jeder Erleuchtungserfahrung, gleich welche sonstigen Erkenntnisse noch damit verbunden sind.
Und diese Zeremonie, das Lesen der Namen der Verschleppten und Ermordeten bringt mich ihnen näher, lässt mich spüren, dass auch das meine Welt ist - und nicht nur unser warmer geheizter Raum hier.
5. Ist das dem Anlass angemessen, hier und heute in Frage zu stellen, was wir an diesem Tag tun? Kann ich als Zen-Lehrer Euch zumuten, an dem zu zweifeln, was Ihr da macht, was wir da machen - wo es doch so wunderschön aussieht, den Holocaust-Opfern zu gedenken? Wir gehen ja nachher auch alle mit dem Gefühl nach Hause, wieder einmal etwas Gutes getan zu haben - am Ende erzählen wir es auch noch anderen, ganz bescheiden natürlich, absichtslos - und genießen ganz absichtslos die Anerkennung, die wir dann ungewollt dafür bekommen.
Lasst Euch nicht von solchen Gedanken beirren: Das Dümmste, was wir tun könnten, ist uns zu verstecken, wenn wir tatsächlich etwas Schönes und Gutes getan haben. Warum sollen wir nicht stolz sein, uns nicht gut fühlen? Was glaubt Ihr, wie gut ich mich jedes Mal fühle, wenn ich so etwas getan habe: Wenn ich einen Freund im Gefängnis besucht habe, wenn ich bei einem Sterbenden gewesen bin, wenn ich etwas verschenkt oder gespendet habe, wenn ich jemandem geholfen habe - und auch, wenn ich etwas Gutes für mich getan habe. Ich finde das völlig in Ordnung.
Natürlich kennt Ihr die Falle: Jedes Gute, das ich tue, wird falsch, wenn ich es mache, um dafür bewundert zu werden. Aber wir müssen alle anerkennen, dass wir eben nicht Shakyamuni Buddha sind, dem wir unterstellen, dass er völlig frei von Eigennutz gewesen ist - wir sind auf dem Weg und wir dürfen natürlich auch an unseren Nutzen denken.

So träume ich davon und denke darüber nach, wie es mir wohl ergehen mag, wenn ich in den Holocaust geraten würde: Wenn da plötzlich Männer in schwarzen Uniformen meine Haustür eintreten, mich aus meiner so unendlich vertrauten und heimeligen Wohnung holen und in einen Viehwaggon sperren, zusammen mit 50 anderen, ohne Essen, Trinken, Sitzgelegenheit, Klo ....ob ich innerlich gelassen bliebe? Und wenn ich nicht mehr weiß, was mit meiner Frau geschehen ist, wo sie ist, ob sie noch lebt, ob sie gequält oder vergewaltigt wird. Mit meinen Töchtern und meiner Enkelin - nur Phantasie und Angst im Kopf. Ob ich da innerlich heiter-gelassen bliebe?
Ich weiß es nicht. Aber in kleinerem Ausmaß habe ich wie jeder von uns schmerzvolle Erlebnisse gehabt und für mich doch eine Veränderung wahrgenommen: Ich falle nicht mehr - oder nicht mehr so lange - in Leiden hinein, also in die innere Abwehr, in dieses 'das nicht haben Wollen', sondern ich trete hinter mich, sehe mich, meine Gefühle, meine Gedanken und die unangenehme Situation von außen. Oder besser noch ausgedrückt: 'Es' tritt hinter mich und beobachtet mich. Und dann geht es nicht mehr darum, wie ich den Schmerz los werde, sondern darum 'wie gehe ich nun damit um?'.
Aber wenn ich mich traue, mir das Leiden eines von den Nazis Verschleppten nur ein bisschen vorzustellen, dann schnürt mir mein Mitgefühl mit all' den Juden, den Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Kriegsgefangenen die Kehle zu, die alles das tatsächlich und ganz wirklich erlebt haben. Und dann ist es egal, ob bei unserem Gedenken ein bisschen 'ich tue das für mich' dabei ist, denn es berührt mich einfach, erzeugt Nähe und Anteilnahme, und es ist auch egal, ob das jemand erfährt oder nicht. Und das mache ich auch nicht als Buddhist oder Christ oder Muslim, sondern es geschieht einfach.
(Michael Rei-Ko Sabass)
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