Im Folgendenden die Anfangszeilen eines Textes mit dem Titel "Religion für mündige Menschen" von Gisbert König:
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. ... Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschheit ... gerne zeitlebens unmündig bleibt und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormünder aufzuwerfen. Es ist so bequem unmündig zu sein. ... Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun. (Immanuel Kant).
Ein neuzeitlicher Autor spricht von der `Behaglichkeit der Herde´. Ich denke, dass auch heute noch viele, wahrscheinlich sogar die meisten erwachsenen Menschen unmündig sind.
Sie lassen sich nur zu gerne von anderen führen und sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Nach der Befreiung von der kommunitischen Diktatur 1990 sprachen auf dem Wenzelsplatz in Prag versammelte Menschen zueinander: Nun sag uns einer, was wir tun sollen. Auf dem Gebiet der Religion ist die Unmündigkeit noch weit verbreiteter als sonst schon. Viele der Menschen, die im übrigen Leben durchaus autonom handeln, ja auch solche, die dort als Führungspersönlichkeiten gelten, sind in religiöser Hinsicht erstaulich unmündig und folgen gedankenlos und unkritisch, nicht selten sogar buchstabengetreu, religiösen Schriften, die vor Jahrtausenden unter völlig anderen gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden sind und auch damals bereits in erster Linie die persönliche Meinung und die Gedanken ihrer jeweiligen Verfasser widergaben, sowie den Einflüsterungen von häufig revisionistischen und engstirnigen Religionsfunktionären.
Die meisten Menschen werden in eine organisierte Religion hineingeboren. Als Kinder stellen sie sie kaum jemals in Frage. Wenn sie aber erwachsen geworden sind, ist es an der Zeit, sich kritisch mit der zunächst reflektionslos übernommenen Religion auseinanderzusetzen. Dieses gelingt am besten, wenn man versucht, eine Position außerhalb dieser Religion einzunehmen, sich mit ihr also wie ein unvoreingenommener Außenstehender zu befassen, so wie man es eo ipso mit anderen Religionen und religiösen Vorstellungen macht. Das Ergebnis könnte sein, dass man bei seiner Kindheitsreligion bleibt, entweder in allen Einzelheiten, die die maßgebenden Religionsfunktionäre unterrichten, oder mit
individuellen Abwandlungen, dass man zu einer anderen (organisierten) Religion übertritt, ohne oder mit Abwandlungen, oder seine eigene Religion entwickelt. Im erstgenannten Fall
(Beibehaltung ohne Änderungen) unterscheidet man sich von den Kindern und den unmündigen Erwachsenen dadurch, dass man nicht aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit in
der durch die Eltern vorbestimmten Religion verharrt, sondern weil man sich selbst diese Religion neu erarbeitet hat und sich aufgrund dessen voll und bewusst mit ihr identifiziert.
Indessen halte ich diesen Fall eher für unwahrscheinlich. Ein mündiger Katholik würde wahrscheinlich nicht an die unbefleckte Empfängnis und die Himmelfahrt Mariens glauben
wollen, desgleichen nicht an die Unfehlbarkeit der Päpste und würde wohl kaum die Einstellung der Kurie zu Fragen der Sexualität und der Geburtenkontrolle übernehmen.
Nach Auffassung des Dalai Lama benötigen wir eine Vielzahl von Religionen; im Grunde genommen brauche jeder Mensch seine eigene Religion, und zwar eine solche, die seiner geistigen Veranlagung, seiner natürlichen Neigung und seinem kulturellen Hintergrund am besten entspricht.
Auf der gleichen Linie liegt Hermann Hesse. Bei der Suche nach dem für ihn richtigen spirituellen Pfad begegnet Siddhartha mit seinem Freund Govinda Buddha. Nachden sie ihn
gehört haben, reiht sich Govinda in die Schar seiner Anhänger ein. Siddhartha glaubt in Buddhas Lehre einen Widerspruch zu erkennen, der ihn veranlasst, weiterhin nach seinem Weg zu suchen. Buddha verabschiedet ihn mit den Worten: Mögest du ans Ziel kommen. Das Gleiche wünscht Siddharta den Jüngern des Buddha und fügt hinzu: Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen! Einzig für mich, für mich allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen. Jahrzehnte später begegnen sich Siddharta und Govinda wieder. Jeder ist seinen Weg gegangen. Siddharta hat sein Ziel gefunden, Govinda (noch) nicht. Er fragt seinen Freund: Hast du eine Lehre? Hast du einen Glauben oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben und recht tun hilft? Siddharta muss ihn enttäuschen: Ich habe Gedanken gehabt, ja, und Erkenntnisse, je und je. Ich habe manchmal Wissen in mir gefühlt, so wie man Leben in seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber schwer wäre es für mich, sie dir mitzuteilen. ... Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.
Jeder muss also seinen Weg selbst finden, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen gibt, von denen er lernen kann, meist jedoch, ohne von ihnen Unterweisungen zu erhalten.
... Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber verhalten.
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( Quelle:
religiosophie.de/wp-content/uploads/2006/04/religionen-fuer-muendige-menschen11.doc&e=14905&ei=cMi0RLyoFoXY2AKg_O31CA)