Da hier vor einiger Zeit eine entsprechende Frage gestellt wurde, habe ich ein paar Quellen zur Dharma-Weitergabe im frühen chinesischen Zen zusammen gesucht. Es gilt zu bedenken, dass wir es jeweils mit Legenden zu tun haben, aus denen keine endgültigen Aussagen abgeleitet werden können. Das frühe Zen bleibt bis hin zu seinem Begründer Bodhidharma geheimnisumwoben. Gleichwohl ist insbesondere die Darstellung der Nördlichen Schule interessant, da sie in den "offiziellen" Legenden unterging.
{z}Die offizielle Legende{/z}
Die offizielle Legende folgt der sogenannten
Südlichen Schule{/f}. Deren Darstellung ist im {f}Plattform-Sutra{/f} niedergelegt, einer Art Biographie über den Mönch {f}Huineng. Da diese Schrift aus bis heute nicht ganz klaren Gründen den Titel eines "Sutra" bekam - was üblicherweise nur den Lehrreden zustand, die man Buddha zuschrieb -, wurde sie signifikant für die weitere Entwicklung des chinesischen Zen, die Etablierung der Südlichen Schule und die allgemeine Anerkennung ihrer Version von der Weitergabe und von der Stammlinie.
Das Plattform-Sutra entstand vermutlich um das Jahr 780. Abschriften des Originals existieren offenbar nicht mehr. Das folgende Material entstammt einer zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den Tun-huang-Höhlen gefundenen Kopie, die laut Philip B. Yampolsky zwischen 830 und 860 verfasst wurde.
Ein Kernpunkt im Plattform-Sutra ist das Aufeinandertreffen von
Shenxiu{/f} und {f}Huineng{/f} als Schüler des Fünften Patriarchen {f}Hongren. Es geht um die Dharma-Weitergabe, und Hongren fordert seine Schüler zur Darlegung ihres Dharma-Verständnisses in Form eines Verses auf.
Shenxius Vers lautet:
{k}Der Körper ist der Bodhi-Baum[*],
Der Geist ähnelt einem klaren Spiegel.
Zu jeder Zeit müssen wir danach streben, ihn zu polieren,
Und dürfen den Staub nicht sich ansammeln lassen.{/k}
Huinengs Vers lautet:
{k}Bodhi hat ursprünglich keinen Baum,
Auch hat der Spiegel keinen Sitz.
Die Buddha-Natur ist stets rein und klar,
Wo ist da Raum für Staub?{/k}
Das Tun-huang-Manuskript enthält übrigens noch eine zweite Version von Huinengs Vers:
{k}Der Geist ist der Bodhi-Baum,
Der Körper ist des Spiegels Sitz.
Der Spiegel ist ursprünglich rein und klar,
Wo kann er da von Staub befleckt werden?{/k}
Huineng gewinnt aufgrund seines Verses den Dharma-Wettkampf. Er wird nach dem Plattform-Sutra Hongrens Nachfolger, der Sechste Patriarch.
[*]: {k}bodhi{/k}, Sanskrit/Pali, wörtlich: "erwacht". Unter dem Bodhi-Baum soll Buddha einst Erleuchtung gefunden haben.
{z}Was wird aus der Weitergabe des Dharma?{/z}
Aus Sicht der
Südlichen Schule{/f} ist {f}Huineng{/f} Hongrens rechtmäßiger Nachfolger und der letzte Patriarch, aus Sicht der {f}Nördlichen Schule{/f} ist es {f}Shenxiu. Danach gibt es bei beiden Schulen keine Patriarchen mehr, die bisherige Form der Weitergabe endet. Es folgen nun die Sichtweisen beider Schulen im Einzelnen.
Die Weitergabe nach dem Plattform-Sutra
aus Sektion 49:
{k}Der leitende Mönch Fa-hai trat hervor und sprach: "Meister, nachdem du gegangen bist - wer wird dann deine Robe und den Dharma erben?"
Der Meister [Huineng] sprach: "Der Dharma ist bereits übergeben worden; da gibt es nichts zu fragen. Ungefähr zwanzig Jahre nach meinem Tod werden schlechte Dharmas nur so wuchern und das Wesentliche meiner Lehre verwässern. Dann wird jemand auftauchen und unter Einsatz seines Lebens das Richtige und das Falsche im Buddhismus zurecht rücken, und das Wesentliche der Lehre aufrichten. Dies wird mein wahrer Dharma sein.
Die Robe darf nicht vererbt werden. Für den Fall, dass ihr mir nicht traut, sollte ich nun die Verse der früheren Patriarchen vortragen, die sie zur Weitergabe der Robe und des Dharma verfassten. Wenn ihr euch auf den Sinn des Verses des Ersten Patriarchen Bodhidharma verlasst, dann ist es nicht nötig, die Robe zu vererben. (...)"{/k}
{k}Vers des Ersten Patriarchen, des Priesters Bodhidharma{/k}
{k}Ich kam ursprünglich nach China,
Um die Lehre weiterzugeben und verblendete Wesen zu retten.
Eine Blume öffnet fünf Blütenblätter,
Und die Frucht reift von selbst.{/k}
(...)
aus Sektion 55:
{k}Dieses Plattform-Sutra wurde vom leitenden Mönch Fa-hai zusammengestellt, der es kurz vor seinem Tod seinem Gefährten anvertraute, dem Mönch Tao-ts'an. Nachdem Tao-ts'an starb, wurde es dessen Schüler Wu-chen übereignet. Wu-chen lebt im Fa-hsing-Tempel am Berg Ts'ao-ch'i in Ling-nan, und von nun an gibt er diesen Dharma weiter.{/k}
aus Sektion 56:
{k}Wenn [in Zukunft] dieser Dharma weitergegeben wird, muss es ein Mensch von erhabener Weisheit sein, der ihn empfängt, jemand mit einem Geist des Glaubens in den Buddha-Dharma, und jemand, der das große Mitgefühl annimmt. So jemand muss geeignet sein, dieses Sutra zu besitzen, um es zu einem Zeichen der Weitergabe zu machen, und darauf zu achten, dass sie in diesen Zeiten nicht abreißt.{/k}
aus Sektion 57:
{k}(...) An denjenigen, der gelobt, alle zu retten, fortlaufend praktiziert, angesichts des Unheils nicht zurück fällt, jegliches Leid erträgt und somit das Höchste an Segen und Tugend besitzt - an so jemanden soll dieser Dharma weitergegeben werden. Das Plattform-Sutra darf nicht leichtsinnig einer Person anvertraut werden, die die Grundsätze verrät und ohne Tugend ist. Dies ist eine Aufforderung an alle Gefährten: Strebt danach, den geheimen Sinn zu verstehen.{/k}
Es folgt nun die weniger bekannte Version der sogenannten
Nördlichen Schule{/f}, die sich selbst nach dem gleichnamigen Sutra die {f}"Lankavatara-Schule"{/f} nannte und sich schließlich gegen die {f}Südliche Schule{/f} nicht durchsetzen konnte. Der Text trägt den Titel {f}"Aufzeichnungen der Lehrer und Schüler des Lanka"{/f} und entstand vermutlich in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts. Es werden hier übrigens sieben Patriarchen genannt: Erster Patriarch ist Gunabhadra, der u.a. das Lankavatara-Sutra ins Chinesische übersetzt hatte. Ihm folgen Bodhidharma, Huike, Sengcan, Daoxin, {f}Hongren (= der Fünfte Patriarch der Südlichen Schule) und schließlich Shenxiu.
Die Weitergabe nach den Lanka-Aufzeichnungen
aus dem Abschnitt über
Hongren:
{k}"In meinem Leben habe ich unzählige Menschen gelehrt. Von ihnen sind viele gute inzwischen verstorben. Ich gebe lediglich zehn [Schülern] die Bestätigung, dass sie meinen Weg künftig weitergeben können. Mit
Shenxiu{/f} habe ich das Lankavatara Sutra erörtert, und er hat seine mystische Wahrheit durchdrungen: er wird mit Sicherheit viel Wohltat bringen. Zhixian von Zizhou und der Registrarbeamte Liu vom Weiße-Pinie-Berg sind beide von geläuterter Natur. An Huizang von Xinzhou und Xuanyue von Suizhou erinnere ich mich [als würdig, wenngleich] ich sie nun nicht sehe. Der alte An von Songshan praktiziert tiefgründig den Weg. Faru von Luzhou, {f}Huineng von Shaozhou und der koreanische Mönch Zhide von Yangzhou sind alle geeignet, Lehrer zu sein, doch sie werden lediglich örtlich wirken. Yifang aus Yuezhou wird weiterhin vortragen und predigen." Zu Xuanze sagte er: "Du selbst musst auf rechte Weise deine vereinigte Praxis aufrecht erhalten und pflegen. Nachdem ich tot bin, müssen du und Shenxiu die Sonne der Erleuchtung wieder neu erstrahlen und die Leuchte des Geistes scheinen lassen."{/k} (Dickdruck von mir)
Über Huineng findet sich in den Lanka-Aufzeichnungen außer der Nennung als einer von Hongrens zehn würdigen Schülern nichts mehr.
Auf Hongrens Abschnitt folgt einer über
Shenxiu. Bis auf folgenden angeblichen Dialog mit Prinzessin Zetian (Shenxiu war Lehrer am kaiserlichen Hof) findet sich keine weitere Bemerkung seinerseits zur Weitergabe.
{k}(...) "Der Dharma, den Ihr weitergebt, ist die Botschaft welchen Hauses?" Shenxiu antwortete: "Ich empfing den Dharma vom Östlichen Berg in Jizhou." Die Prinzessin fragte: "Auf welchen Text stützt Ihr Euch?" Shenxiu antwortete: "Wir halten uns an den Samadhi der Einen Praxis aus dem Prajna-Sutra, das von Manjusri gesprochen wurde." (...){/k}
Nach Shenxius Abschnitt kommt ein kurzer Abschnitt über seine Schüler Puji, Jingxian, Yifu und Huifu, an die er seinen Dharma weitergegeben hatte. Damit enden die Lanka-Aufzeichnungen.
Quellen:
Philip B. Yampolsky "The Platform Sutra of the Sixth Patriarch: The Text of the Tun-huang Manuscript"
J. C. Cleary "Zen Dawn: Early Zen Texts from Tun Huang"